In den letzten Jahren ist eine neue Bewegung entstanden – Trauma-informed Acting bzw. traumainformiertes Schauspiel. Dieser Ansatz verändert den Blick auf Ausbildung, Regie und die Arbeit am Set – und er öffnet einen Raum für echte Authentizität ohne emotionale Selbstausbeutung.

Sicherheit vor Intensität: Eine Gruppe erarbeitet achtsame Kommunikations- und Feedbackmethoden im traumasensiblen Schauspieltraining
Wie ein neues Bewusstsein Schauspiel, Schauspielausbildung und Kunst verändern und Heilung unterstützen kann
Von Daniel Urban – Schauspieler, Schauspielcoach und Therapeut
Einleitung – Ein Wandel beginnt im Bewusstsein
Jahrzehntelang wurde Schauspiel oft als Disziplin verstanden, die absolute Hingabe verlangt – emotional, körperlich, seelisch. Schauspieler:innen sollten „funktionieren“, Gefühle auf Knopfdruck produzieren und die eigene Grenze zugunsten der Kunst aufgeben. In Teilen der Ausbildung kursierte lange die Idee, man müsse junge Schauspielstudent:innen erst „brechen“, um sie dann neu „aufzubauen“. Heute wird immer klarer: Dieser Ansatz kann verletzen – menschlich und künstlerisch.
In den letzten Jahren entsteht eine neue Haltung: traumainformiertes Schauspiel (auch: traumasensibles bzw. traumabewusstes Schauspiel). Sie anerkennt, dass Emotion nicht beliebig abrufbar ist, dass jede Darstellerin und jeder Darsteller Biografie und Verletzlichkeit mitbringt – und dass Sicherheit vor Intensität kommen sollte, ohne künstlerische Tiefe zu verlieren.
Meine drei Perspektiven
Ich kenne dieses Feld aus drei Rollen meines Lebens – als Schauspieler, als Schauspielcoach und als Therapeut. Ich habe die befreiende Kraft intensiver Inside-Out-Methoden erlebt – und ihre Schattenseiten: Übungen ohne Halt, Druck am Set, fehlendes Bewusstsein. Heute verbinde ich künstlerische Tiefe mit einem klaren Sicherheitsrahmen: Sicherheit vor Intensität, Transparenz vor Manipulation, Verantwortung vor Ergebnis.
Wichtiger Hinweis: Traumainformiertes Schauspieltraining ersetzt keine Psychotherapie oder medizinische Behandlung. Bei aktueller Instabilität, bekannten Traumafolgestörungen oder anderen erheblichen psychischen Belastungen ist intensives Inside-Out-Schauspieltraining in der Regel nicht geeignet; in solchen Fällen rate ich – je nach individueller Lage und nach Rücksprache mit den behandelnden Fachpersonen – ausdrücklich davon ab.
Was Trauma bedeutet – nach Gabor Maté
Der kanadische Arzt und Traumaforscher Gabor Maté definiert Trauma nicht primär als Ereignis, sondern als innere Folge:
„Trauma ist nicht das, was dir passiert, sondern das, was in dir geschieht, als Folge dessen, was dir passiert.“
— Gabor Maté
Das verschiebt den Fokus: Nicht die „Größe“ eines Ereignisses entscheidet, sondern der Verlust von innerer Sicherheit, Verbindung und Selbstgefühl. Manche werden nach massiver Gewalt traumatisiert – andere durch emotionale Vernachlässigung oder ständige Abwertung. Entscheidend ist, was in uns geschieht, wenn es zu viel ist.
Warum das im Schauspiel zählt: Viele Methoden arbeiten bewusst mit dem Verdrängten – Schmerz, Wut, Scham, Angst. Ohne Verständnis dafür, was starke Emotionen im Körper auslösen, wiederholt das Training schnell ein altes Muster: mit dem Schmerz allein zu sein.
Ein bekannter Regisseur im deutschsprachigen Raum hat mir einmal gesagt: „Dein Tiefpunkt ist der Ausgangspunkt der Verbindung mit der Figur. Dein Schmerz wird zum Schmerz deiner Figur – so entsteht Verschmelzung.“ Er erklärte mir, dass wir im Schmerz im „kollektiven Unbewussten“ am spürbarsten wären. Wir als Menschen und Künstler. Und dass dies eine wertvolle Methode und Möglichkeit wäre, die Figur zu verkörpern. Dieser Ansatz machte und macht für mich Sinn. Und das Glück war, dass dieser Regisseur nicht nur ein großer Könner seines Fachs war, sondern auch ein unglaublich feiner und empathischer Mensch. Mein Vertrauen war also zu hundert Prozent da. Aber viele haben dieses Glück, so einen „Könner“ zu treffen, nicht.
„Dein Tiefpunkt ist der Anfangspunkt der Verbindung mit der Figur.
Dein Schmerz wird zum Schmerz der Figur — daraus entsteht Verschmelzung.“— ein bekannter Regisseur aus dem deutschsprachigen Raum
Die Intensität und Tiefe kann für die Rollenarbeit und Inszenierung absolut richtig und wichtig sein – wenn Vertrauen, Dosierung und Stabilisierung den Rahmen bilden. Sonst wird die Brücke zum Sturz ins Unverarbeitete.
Die unsichtbaren Folgen von Trauma
- Abspaltung von Gefühlen/Körperwahrnehmung („Ich bin nicht richtig da“)
- Überkompensation: Leistung, Perfektionismus („Ich muss funktionieren“)
- Wiederholungszwang und harte Selbstkritik
- Schwierigkeiten mit Nähe und Grenzen – auch in Proben und am Set
- Innere Leere/Fremdheit – oft fälschlich als „fehlende Kreativität“ gedeutet
Trauma ist kein Zeichen von Schwäche – sondern von Schutz. Aufgabe eines traumasensiblen Schauspieltrainings ist nicht, diesen Schutz zu brechen, sondern ihn zu verstehen und von Sicherheit aus neue Spielräume zu öffnen.
Warum gerade Künstler:innen oft mit Trauma arbeiten
Schauspiel ist eine Kunstform, die auf Empathie und emotionaler Durchlässigkeit beruht. Viele Menschen, die diesen Weg wählen, haben eine besondere Sensibilität – sie spüren feine Nuancen, nehmen Atmosphären wahr und besitzen die Fähigkeit, innere Zustände sichtbar zu machen. Diese Sensibilität ist eine Gabe. Sie kann aber auch das Resultat früher Verletzungen sein. Oft ist es auch ein innerer Drang, etwas ausdrücken zu wollen – vielleicht auch zu müssen. Gesehen und geliebt zu werden.
Menschen, die in ihrer Kindheit Ohnmacht, Scham oder Ablehnung erlebt haben, entwickeln oft ein starkes Einfühlungsvermögen. Sie lernen, die Emotionen anderer zu lesen – als Überlebensstrategie. Und sie wollen oft – das weiß ich aus eigener Erfahrung (als junger Mann, der diesen Weg gegangen ist, und heute als Schauspielcoach mit Schüler:innen und Teilnehmenden) – gesehen und geliebt werden. Viele Theorien über den Ursprung von Kunst sowie persönliche Biografien von Künstler:innen lassen vermuten, dass Schmerz eine zentrale Rolle dabei spielt. Die oben genannten Fähigkeiten sind in der Kunst und besonders im Schauspiel von unschätzbarem Wert. Doch ohne Bewusstsein kann dieselbe Offenheit zum Risiko werden: Wenn man Gefühle anderer verkörpert, ohne sich selbst zu spüren, verliert man Halt.
Eine tiefe Sehnsucht sich auszudrücken
Denn genau diese tiefe Sehnsucht, sich auszudrücken, verstanden zu werden – vielleicht auch zu heilen – finden viele Künstler:innen in der Kunst. So wird sie zu einem Ort, an dem das Abgespaltene eine Stimme bekommt.
Doch genau diese Tiefe kann gefährlich werden – in Ausbildungen sowie später, wenn der kreative Prozess alte Wunden berührt, ohne sicheren Rahmen. Schauspieler:innen sind hier besonders exponiert: Sie verkörpern Emotionen, sie leben innere Zustände. Wenn jemand – oft unbewusst – in eine Szene einsteigt, die das eigene Trauma aktiviert, kann dies zu Überforderung, Retraumatisierung oder Erschöpfung führen.
In der modernen Traumaforschung – unter anderem bei Gabor Maté, Peter A. Levine oder Bessel van der Kolk – wird betont, dass Künstler:innen häufig unbewusst an Themen arbeiten, die mit ihrer eigenen Geschichte zu tun haben. Das kreative Feld wird so zum Ort der Wiederbegegnung – manchmal der Heilung, aber leider auch oft der Wiederholung.
Weiterlesen: Traumarbeit (DreamWork) im Schauspiel – Zugänge zur Tiefe ohne Überflutung
„Das Unterdrückte verschwindet nicht. Es sucht sich seinen Ausdruck – in Krankheit, in Sucht oder in Kunst.“
— Dr. Gabor Maté, aus The Myth of Normal
Hier schließt sich der Kreis zur Idee des traumainformierten Schauspiels: ein Ansatz, der anerkennt, dass viele Künstler:innen mit sensiblen, offenen, manchmal verletzten Nervensystemen arbeiten – und dass genau diese Sensibilität ihre größte Kraft sein kann, wenn sie geschützt und gehalten wird.
Transgenerationale und kulturelle Traumata
Traumatische Erfahrungen enden nicht mit der betroffenen Person. Sie können – wie Forschungen aus der Epigenetik zeigen – über Generationen weiterwirken. In Europa tragen viele Familien noch immer die seelischen Nachwirkungen von Krieg, Vertreibung, Armut und Schweigen. Diese Erfahrungen prägen ganze Kulturen: eine tiefe Angst vor Schwäche, die Tendenz zur Kontrolle, das Misstrauen gegenüber Gefühlen.
Immer wieder höre ich aus persönlichen Erzählungen, wie „wortlos“ eine ganze Generation von Eltern im Nachkriegsdeutschland war. Es wurde aufgebaut – und nicht über Gefühle geredet. Auch, weil „Funktionieren“ nur mit Abspaltung möglich war. Die schrecklichen Erfahrungen mussten, so denke ich, unterdrückt werden, um zu überleben. Viel wurde darüber gesagt und geschrieben. Aber auch das „Wortlose“ oder „Emotionskarge“ kann sich – in anderer Form – auf die nächste Generation übertragen. Unter der Oberfläche ist oft mehr verborgen, als Worte ausdrücken können.
Der Körper „weiß es“
Doch unsere Körper wissen mehr als unser Bewusstsein: Sie erinnern. Und wenn ein:e Schauspieler:in eine Figur spielt, die in Schmerz oder Verlust lebt (bzw. diesen Schmerz unter den Schichten der Figur anlegt), können unbewusste Ebenen in Resonanz gehen – auch dann, wenn kein „bewusstes Trauma“ bekannt ist. Hier kann sich etwas „anhaften“, das schwer zu messen oder vorherzusehen ist – vielleicht schon vor der eigenen Geburt angelegt. Dieses Thema ist sehr komplex und sprengt meinen Kompetenzbereich.
Franz Ruppert und die Identitätsorientierte Psychotraumatheorie (IoPT)
In Deutschland hat insbesondere Prof. Dr. Franz Ruppert mit seiner Identitätsorientierten Psychotraumatheorie (IoPT) wichtige Impulse gegeben. Er betrachtet Trauma als Aufspaltung innerer Anteile – in einen gesunden, einen traumatisierten und einen Überlebensanteil. Diese Theorie erklärt, warum Menschen oft zwischen Überanpassung und Rückzug schwanken und warum Selbstwahrnehmung der Schlüssel zur Heilung ist.
Rollenarbeit ist immer auch eine Begegnung mit eigenen Anteilen
Für Schauspieler:innen bedeutet das: Rollenarbeit ist immer auch eine Begegnung mit eigenen Anteilen. Wenn diese inneren Dynamiken erkannt und gehalten werden, entsteht authentisches Spiel – ohne Überforderung. Ruppert betont die Bedeutung eines sicheren Rahmens, in dem Kontakt zu sich selbst möglich bleibt. Dieser Gedanke deckt sich mit dem Grundprinzip des traumainformierten Schauspieltrainings: Sicherheit vor Intensität. Gleichzeitig liegt Verantwortung auch bei Schauspieler:innen: nicht alles auf andere projizieren, sondern Bewusstsein und Selbstwahrnehmung kultivieren.
Selbstwahrnehmung als Grundlage jeder künstlerischen Tiefe
In meiner Arbeit als Schauspielcoach und Therapeut habe ich gelernt, Selbstwahrnehmung an erste Stelle zu setzen. Es geht um die Fähigkeit zu spüren, was zu mir gehört – und was zur Figur. Wer diese Unterscheidung halten kann, spielt tief und bleibt dabei sicher. Und: Wer herausfindet, wer er:sie ist (das kann ein lebenslanger Prozess sein), kann achtsam mit sich umgehen und Grenzen wie auch Wünsche klar äußern.
Körpersignale besser verstehen – der Körper als Kompass
Schauspiel ist kein Prozess des Sich-Verlierens, sondern ein Prozess bewusster Verbindung. Der Körper ist dabei Kompass und Zeuge: Jede Gänsehaut, jede Spannung, jeder Atemzug erzählt, wo etwas zu viel wird – oder wo etwas echt berührt. Er zeigt, was aushaltbar ist und was nicht; was eine gesunde Challenge bleibt – und was (auch plötzlich) gefährlich kippen kann. Wir arbeiten immer mit dem Körper. Genau hier können Schauspieler:innen lernen, noch präziser auf die eigenen Signale zu achten.
Der Körper als Kompass
- Green Flags: Atmung ruhiger, Erdung spürbar (Füße/Sitz), klarer Fokus, Kontakt möglich, nach der Szene rasche Rückkehr.
- Yellow Flags: Enge in Brust/Hals/Magen, flacher Atem, Tunnelblick, Zittern, innerer Druck „Ich muss durch“. → Dosis senken, Tempo rausnehmen.
- Red Flags: Leere/Benommenheit, Dissoziation („wie neben mir“), Panik, Weinen ohne Stopp, „komme nicht runter“. → Sofort STOP, De-Roling & Stabilisierung.

Anleitung zu Erdung (Grounding) als stabilisierender Bestandteil im traumasensiblen Schauspieltraining
Wenn Schauspieler:innen „gebrochen“ werden
In der Geschichte des Schauspiels war der Umgang mit Emotionen und Intensität oft radikal. In vielen Ausbildungsstätten, Theatern und Filmsets herrschte jahrzehntelang eine Kultur der Härte: „Nur wer weint, fühlt wirklich“, „Du musst dich brechen lassen, um wahrhaft zu spielen.“ Was als Hingabe an die Kunst verstanden wurde, war häufig ein System emotionaler Überforderung.
Regisseur:innen und Dozent:innen trieben Schauspieler:innen an ihre Grenzen – manchmal aus Unwissenheit, manchmal im Namen der eigenen Reputation (und sicherlich begünstigt durch Leistungs- und Erfolgsdruck).
Zu oft wurde vermeintliche „Authentizität“ über emotionale Sicherheit gestellt; Schauspieler:innen und andere Teammitglieder am Set galten als „Instrumente“, die funktionieren sollten. Grenzen wurden überschritten – teils aus Unwissenheit, teils durch Machtgefälle.
Die dunkle Seite dieser Kultur
Sichtbar wurde das u. a. durch die gegen den 2022 verstorbenen Regisseur Dieter Wedel erhobenen Vorwürfe (das Strafverfahren wurde mit seinem Tod eingestellt) sowie durch Berichte über ein externes Gutachten zu mutmaßlichem Fehlverhalten am Set von „Manta Manta – Zwoter Teil“. Es gilt die Unschuldsvermutung. Grenzüberschreitungen können systemisch sein (Machtmissbrauch, fehlendes Bewusstsein), sie reichen – wie im Fall Harvey Weinstein (und vieler anderer) – bis zu schwersten strafrechtlichen Vorwürfen.
Von Machtmissbrauch war oft die Rede. Autoritäre, direktive, impulsive und konfrontative Führungsstile waren keine Randphänomene – und nicht nur unsere Branche war betroffen; es war (und ist) auch eine kulturelle Pathologie. Natürlich ist ein Filmteam hierarchisch organisiert. Doch Druck, Beschämung und emotionaler Zwang wurden zudem als künstlerisches Mittel legitimiert – oft mit verheerenden Folgen für die psychische Gesundheit der Beteiligten.
Das Problem war nie der Anspruch an künstlerische Tiefe, sondern das Fehlen von Bewusstsein. Emotionale Sicherheit wurde der vermeintlichen Authentizität geopfert.
Zugleich bewegt sich die Branche: Externe Untersuchungen, schärfere interne Standards und die Ausweitung von Intimitätskoordination (z. B. Checklisten & Materialien, FAQs) stärken Arbeitsschutz, Einwilligung und psychische Sicherheit. Diese Schritte markieren keinen Schlussstrich, aber einen klaren Kulturwandel – hin zu Verantwortung, Transparenz und sicheren Prozessen für alle Gewerke.
Von der Funktion zur Verbindung
Ein traumainformierter Blick verändert die Haltung grundlegend: Schauspieler:innen sind keine emotionalen Maschinen, sondern fühlende Menschen mit Geschichte. Speziell Schauspieler:innen können beim Spielen sehr verletzlich und „ausgesetzt“ sein. Am Set braucht es Führung, weil wahrhaftige Präsenz und Selbstbeobachtung sich oft ausschließen. Authentizität entsteht nicht durch Druck (auch wenn viele das lange glaubten), sondern durch Vertrauen. Regie darf – neben klarer Vision und Führung – zunehmend auch Begleitung sein. Ein:e Regisseur:in, Intendant:in oder Schauspieldozent:in bzw. Schauspielcoach mit Trauma-Bewusstsein schafft Räume, in denen Tiefe möglich wird, ohne Schaden anzurichten.
Method Acting & somatische Dramaturgie: Risiko und Brücke zur Traumaforschung
Konstantin Stanislawski und später Lee Strasberg´s Method Acting haben das moderne Schauspiel revolutioniert. Die Idee, eine Figur „von innen heraus“ zu erschaffen. Substitution (Personalisierung) und weitere Techniken Gefühle einer Figur aus den eigenen Erfahrungen zu verkörpern ermöglichte nie dagewesene Wahrhaftigkeit. Doch diese Methoden berühren dieselben inneren Räume, die auch in der Traumatherapie eine Rolle spielen.
Wenn Schauspieler:innen mit emotionalen Erinnerungen arbeiten, öffnen sie neuronale Bahnen, die mit Schmerz, Verlust oder Angst verknüpft sind. Ohne Stabilisierung und Nachbereitung kann das zu Reinszenierungen alter Erfahrungen führen. Genau hier liegt die Schnittstelle zwischen Method Acting und Traumaforschung: Beide bewegen sich im Reich des impliziten Gedächtnisses, in dem Emotion und Körper untrennbar verbunden sind.
Unverarbeitete Gefühle werden im Körper gespeichert
Forschungen aus der somatischen Traumatherapie zeigen, dass unverarbeitete Gefühle im Körper gespeichert bleiben. Übungen, die tiefe Emotionen aktivieren, können daher unbewusst körperliche Reaktionen auslösen – Zittern, Erstarren, Dissoziation. Ich erinnere mich an Übungen aus meiner Schauspielschulzeit, in denen ich drei Stunden weinte und das Gefühl durchlebte, wieder ein von der Welt abgetrennter Säugling zu sein. Ein Coach, der diese Gefahren und Mechanismen nicht erkennt, riskiert unbewusst Schaden anzurichten – auch bei künstlerischer Absicht.
Das bedeutet nicht, dass solche Methoden „falsch“ sind. Im Gegenteil: Sie können transformativ sein, wenn sie bewusst angeleitet werden. Doch sie brauchen ein Fundament aus Stabilisierung, Reflexion und Integration. Schauspieler:innen müssen lernen, zwischen Rolle und Selbst zu unterscheiden; Schauspielcoaches (und im besten Fall auch weitere Beteiligte) brauchen Kenntnisse, wie der Körper auf emotionale Aktivierung reagiert.
Warum intensive Ansätze Schaden anrichten können
- Identitätsverwischung: Über lange Zeit in extreme Rollen hineingezogen, kann die Grenze zwischen Person und Figur unscharf werden.
- Chronische Erschöpfung/Überreizung: Wiederholte Hochintensität ohne ausreichende Regulation überfordert das Nervensystem.
- Verdrängung & Abspaltung: Teile des Erlebten werden abgespalten – Fragmentierungsgefühl.
- Traumatisches Wiedererleben: Ungeheilte Erlebnisse können in Rollen aktiviert und re-getriggert werden.
- Ungesundes Training & Auslese: In rigiden Hierarchien wird Schmerz als Talentmaßstab kultiviert („Nur die Harten bestehen“).
Weiterlesen: Schattenarbeit im Schauspiel – sicher in die Tiefe arbeiten
Die Traumaforschung liefert neue Erkenntnisse
Lange fehlten Sprache und Bewusstsein für „Trauma“, „Trigger“ und „Regulation“. Heute liefern Traumaforschung und verschiedene traumatherapeutische Ansätze (u. a. somatische Verfahren) ein anderes Verständnis dafür, wie starke Emotionen im Körper wirken – und wie wir sie sicher begleiten.
Früher wurden Schauspieler:innen oft in hoch emotionale Zustände geführt – ohne anschließende Stabilisierung. Was als künstlerische Hingabe galt, war häufig Überwältigung ohne Integration.

Zwei Schauspieler:innen in einem symbolischen Moment Sinnbild für emotionale Achtsamkeit und traumasensible Schauspielarbeit
Was ein traumasensibler Rahmen bedeuten kann
- Gefühle dosiert zugänglich machen – nicht forcieren; Intensität wird abgestuft (Dosis statt Druck).
- Körperwahrnehmung zur Erdung nutzen (Atem, Bodenkontakt, Orientierung), nicht nur zum Öffnen.
- Klare Ein- und Ausstiege (De-Roling, Übergangsrituale) statt abrupter Szenenwechsel.
- Wahlfreiheit & Opt-out – Alternativen anbieten (Imagination statt Biografie, „As-if light“).
- Nacharbeit & Reflexion fest einplanen: Zeit zum Nachspüren, Benennen, Integrieren.
- Gruppen- und Set-Sicherheit schaffen: Time-out-Zeichen, Quiet Room, klare Zuständigkeiten.
- Selbst- und Mitregulation stärken (z. B. 4–6-Atmung, Pendulation, Orienting Breath + Naming).
Vom Körper zur Bewusstheit
Ein traumasensibles Schauspieltraining integriert den Körper nicht als Werkzeug, sondern als Partner. Es achtet auf Atem, Rhythmus, Erdung und Grenzen. Es erkennt Anzeichen von Überforderung und stellt Fragen: „Was brauchst du, um sicher zu bleiben?“ – „Wie kannst du dich wieder im Hier und Jetzt verankern?“ So wird körperliche Präsenz zur Grundlage psychischer Sicherheit. Manche geschulte Schauspiellehrer:innen und Schauspielcoaches (z. B. Kim Gillingham) arbeiten mit einem bewusst markierten „heiligen Raum“, den man beim Spielen und Explorieren betritt – und bewusst wieder verlässt.
Wege zur Verantwortung – warum ein traumasensibles Schauspieltraining der neue Standard sein sollte
Wir leben in einer Zeit, in der Mental Health endlich Teil öffentlicher Debatten geworden ist. In Unternehmen, im Sport und in Schulen wird über Achtsamkeit, psychische Sicherheit und gesunde Führung gesprochen. In meiner Ausbildung zum agilen Coach ging es immer wieder genau darum: Change, Kulturwandel und bessere Führungsstile. Ich glaube, einen „Kulturwandel“ braucht es auch im Schauspiel: traumasensibles bzw. traumabewusstes Arbeiten. In der Schauspielwelt ist dieser Wandel erst im Entstehen (speziell in Deutschland). Hier arbeiten Menschen regelmäßig mit ihren tiefsten Emotionen – häufig ohne Bewusstsein für einen geschützten Rahmen.
Ein traumainformiertes Schauspiel (und Schauspieltraining) setzt genau hier an: Es verbindet künstlerische Tiefe mit psychologischer Verantwortung. Es geht nicht darum, weniger intensiv zu arbeiten – sondern bewusster. Statt Manipulation tritt Begleitung, statt Druck Vertrauen, statt Zwang Freiwilligkeit, statt Schweigen Wertschätzung. Die neue Professionalität misst sich nicht daran, wie sehr ein:e Schauspieler:in leidet, sondern wie sicher er:sie bleibt, während er:sie sich öffnet.
Prinzipien eines traumainformierten Schauspielraums
- Sicherheit vor Intensität: Keine Übung rechtfertigt Überforderung. Tiefe entsteht, wenn der Körper vertraut und der Geist präsent bleibt.
- Bewusstsein & Freiwilligkeit: Arbeit an emotionalen Themen erfolgt transparent und in eigener Entscheidung.
- Reflexion & Integration: Nach jeder intensiven Arbeit folgt Zeit für Nachspüren, Gespräch oder Erdung – kein abrupter Szenenwechsel.
- Respekt vor Grenzen: Jede Grenze ist Ausdruck von Intelligenz, nicht Schwäche.
- Gruppe (und alle Beteiligten) als Gefäß: Die Gruppe hält, spiegelt und schützt. Niemand bleibt mit starken Emotionen allein. Wir schauen hin, fragen nach Unterstützung, helfen und stärken uns – pures Empowerment.
Diese Prinzipien verändern nicht nur das Training, sondern auch die Haltung im gesamten künstlerischen Prozess – vom Casting über Proben bis zum Set. Sie bilden die Grundlage für eine Kultur, in der künstlerische Tiefe und psychische Gesundheit kein Widerspruch sind.

Offene, achtsame Gruppenarbeit in einem traumasensiblen Coaching – Raum für Emotion, Vertrauen und Transformation
Mein Weg zwischen Methode, Schmerz und Bewusstsein
Ich kenne beide Seiten: die ekstatische Intensität, wenn eine Szene alles durchdringt – und den Absturz danach, wenn das Nervensystem überflutet ist. Als Schauspieler habe ich erlebt, wie leicht man sich verlieren kann – in Workshops und am Set, speziell wenn keine Sicherheit angeboten wird (bei Filmstudent:innen habe ich wiederholt grenzwertige Unwissenheit erlebt). Ich habe aber auch Lehrer:innen und Regisseur:innen erlebt, die den Menschen sahen – nicht nur die Figur. Diese Begegnungen haben mich geprägt.
Als ich später begann zu unterrichten, wollte ich dieselbe Tiefe ermöglichen, die mich als junger Mann zu diesem Beruf bewegt hat. Doch ich spürte schnell: Manche Übungen können alte Verletzungen reaktivieren. Ich sah Tränen, Zittern, Rückzug – und merkte, dass nicht jeder Schmerz automatisch Wachstum bedeutet. Erst durch meine Ausbildung als systemischer Coach, Therapeut und Hypnosetherapeut verstand ich, was in solchen Momenten im Nervensystem passiert.
Ein Kulturwandel – von #MeToo zu #TraumaAware
Die Film- und Theaterwelt befindet sich im Umbruch. Nach #MeToo hat sich die Aufmerksamkeit auf Macht, Grenzen und Verantwortung erweitert. Doch hinter sexueller oder emotionaler Grenzüberschreitung liegt oft etwas Tieferes: der Umgang mit Verletzlichkeit und Schmerz. Trauma-informed Acting ist die nächste Stufe dieser Bewusstseinsentwicklung – eine Einladung, nicht nur Verhalten, sondern Haltung zu verändern.
In Schauspielschulen und Produktionshäusern beginnt langsam ein Umdenken. Einige internationale Einrichtungen wie die Royal Academy of Dramatic Art (RADA) oder die National Film and Television School (UK) integrieren bereits Intimacy Coordination und trauma-informed practice in ihre Programme. Auch in Deutschland wächst das Interesse – an Konzepten, die Schauspieler:innen als ganze Menschen (mit Vorbelastungen und Wunden) sehen, nicht als Werkzeuge, und in denen Gesundheit und Sicherheit an erster Stelle stehen.

Professionelle Einwilligungsarbeit („Consent Work“) und Intimitätskoordination als Bestandteil traumasensibler Schauspielpraxis
Wandel erfordert weiter Mut
Dieser Wandel erfordert weiter Mut zur Reflexion: Wie führen wir? Wie unterrichten wir? Wie gehen wir mit Emotionen, mit Scham, mit Angst um? Ein traumainformiertes Bewusstsein bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – nicht nur für Ergebnisse, sondern für Prozesse. Und für die eigenen Fehler. Es verändert Sprache, Machtstrukturen, Trainingsmethoden und letztlich auch die Qualität der Kunst. Wenn Menschen sich sicher fühlen, können sie wahrhaftiger spielen. Davon bin ich überzeugt. Vor allem aber werden sie weniger anfällig für schwere psychische Erkrankungen, Sucht oder – im schlimmsten Fall – Suizid. Sie wählen dann vermehrt Selbstfürsorge, Selbstmitgefühl und Verantwortung – vielleicht gerade wegen ihrer Vorbelastungen.
Einladung
Ich wünsche mir, dass dieser Artikel Bewusstsein schafft – in der Branche, in Schulen, an Sets, in jedem künstlerischen Raum. Wer tiefer eintauchen möchte: Auf meiner Website unter „Kernkonzepte – Trauma-informed Acting“ findest du weitere Informationen und Impulse. Ich glaube, dass Schauspieler:innen und Künstler:innen einen heilenden Beitrag leisten können – mit Bewusstheit und Sicherheit. Sich zutiefst kennenlernen und Gefühle fühlen sowie integrieren, ohne sich darin zu verlieren, kann auch Räume für andere schaffen. Dafür sollten wir geschützt werden – und uns selbst schützen. Ein:e Künstler:in, der:die sich selbst liebt, liebt auch die Kunst – und den Menschen.
Wer diese Räume (intensives Schauspiel, Sicherheit und Wachstum) genauso liebt wie ich, ist herzlich eingeladen, zu einem meiner Workshops und Retreats zu kommen. Ich freue mich auf gemeinsame Erfahrungen, ehrliche und intensive Begegnungen und echtes künstlerisches Wachstum!
„Heilung bedeutet, sich selbst wieder zu erlauben, zu fühlen.“
— Dr. Gabor Maté
Ein ausführliches PDF mit den wichtigsten Prinzipien des traumainformierten Schauspieltrainings steht bald zum Download bereit. Wenn Sie Fragen haben schreiben Sie mir gerne hier eine Nachricht.
Hier erfahren Sie mehr zu meinem traumasensiblen Ansatz im Schauspiel
Wichtiger Hinweis: Selbstschutz, Grenzen & verantwortlicher Rahmen
Traumainformiertes/-sensibles Schauspieltraining ist kein Ersatz für Psychotherapie oder medizinische Behandlung. Traumafolgen sind oft schwer zu erkennen und können sich mit anderen Belastungen überschneiden. Obwohl ich einen therapeutischen Hintergrund habe und diagnostizieren darf, sehe ich nicht alles – ich arbeite bewusst und lerne stetig.
Wenn du aktuell in psychotherapeutischer oder ärztlicher Behandlung bist (ggf. mit Medikation), stimme intensive Inside-Out-Methoden bitte vorher mit deinen Behandler:innen ab. Bestimmte Übungen sind in bestimmten Lebensphasen nicht geeignet. Meine Trainings richten sich vor allem an Menschen, die sich gegenwärtig ausreichend stabil fühlen, Grenzen spüren und äußern können und bereit sind, die Dosis zu steuern (Opt-out, Pausen, Alternativen).
Nicht jede Methode passt in jede Lebensphase. Traumasensible Arbeit kann Schutzfaktoren stärken und Überforderung vorbeugen – sie ist jedoch kein Heilsversprechen.
Häufige Fragen (FAQ)
Was ist traumainformiertes Schauspiel?
Traumainformiertes Schauspiel stellt die psychologische Sicherheit von Schauspieler:innen in den Mittelpunkt. Es verbindet künstlerische Tiefe mit Achtsamkeit, Selbstregulation, klaren Grenzen und transparenter Kommunikation – in Ausbildung, Proben, am Set und auf der Bühne.
Wie unterscheidet es sich von klassischem Method Acting?
Method Acting arbeitet häufig mit eigenen Erinnerungsemotionen und intensiver Identifikation. Traumainformiertes Arbeiten ergänzt dies um Sicherheitsstrukturen: Dosierung statt Druck, Körperwahrnehmung und Erdung, De-Roling, Wahlfreiheit/Opt-out sowie Reflexion und Integration nach intensiven Szenen.
Was bedeutet „Sicherheit vor Intensität“ konkret?
Intensität wird nur so weit erhöht, wie Regulation möglich bleibt. Praxis: kurze Dosen, bewusste Atmung/Orientierung (Grounding), klare Ein- und Ausstiege (De-Roling), Time-out-Zeichen, ruhiger Rückzugsraum – und erst danach wieder vertiefen.
Kann traumainformiertes Schauspiel therapeutisch wirken?
Es kann heilende Prozesse unterstützen (Bewusstheit, Selbstmitgefühl, neue Handlungsräume), ist aber kein Ersatz für Psychotherapie oder medizinische Behandlung. Bei Instabilität: ärztlich/therapeutisch abklären und Dosis reduzieren oder aussetzen.
Was sollten Schauspieler:innen beachten, wenn sie mit ihren Trauma-Themen arbeiten?
- Sie sollten am besten nicht mit ihren Trauma-Themen arbeiten. Die Gefahr einer Retraumatisierung ist groß. Bei herausfordernden Themen am besten:
- Selbstwahrnehmung trainieren (Körpersignale ernst nehmen).
- Grenzen benennen; Wahlfreiheit & Opt-out nutzen.
- Erdung/Atmung regelmäßig einbauen (vor, während, nach Szenen).
- Mit Coaches/Regie arbeiten, die traumasensibel führen.
- Nach intensiven Szenen De-Roling und Integration einplanen.
Bietet Daniel Urban traumainformierte Workshops oder Retreats an?
Ja. Informationen und Termine findest du unter Akademien & Retreats sowie bei den Schauspielworkshops. Die Formate verbinden künstlerische Tiefe mit Sicherheit, Achtsamkeit und psychologischer Klarheit.
Weiterführende Literatur und Quellen
- Gabor Maté (2022): The Myth of Normal – Trauma, Illness and Healing in a Toxic Culture – drgabormate.com
- Franz Ruppert (2018): Mein Körper, mein Trauma, mein Ich – franz-ruppert.de
- Peter A. Levine (2010): In an Unspoken Voice – How the Body Releases Trauma and Restores Goodness – traumahealing.org
- Bessel van der Kolk (2014): The Body Keeps the Score – besselvanderkolk.com
- Judith Herman (2015): Trauma and Recovery
- Frontiers in Psychology (2014): Somatic Trauma Research
- Royal Academy of Dramatic Art – Trauma-informed Practice
- National Film and Television School – Wellbeing Programmes
Autor: Daniel Urban – Schauspieler, Schauspielcoach und Therapeut
www.danielurban.de
